Christoph Schlatters Irrfahrt

SOMMERWIES Ein Quartier wehrt sich gegen Randständige. Die SP macht sich zur Steigbügelhalterin.
Marion Rusch, Schaffhauser AZ vom 2.7.2020

Die Quartierbewohnerinnen der Sommerwies spielten ihren stärksten Trumpf: Sie drückten auf die Tränendrüse.
Als die drei Dutzend Menschen am Dienstagabend vor dem  Parlamentsgebäude gegen das Projekt «Soziales Wohnen» im Hauentat demonstrierten, stellten sie ihre Kinder mit selbst gemalten Plakaten an die Front: «Schaut genau hin!» steht auf den Plakaten. Die Botschaft war unschwer zu erkennen: Wenn ihr Politiker heute Ja sagt, spielt ihr mit unserer Zukunft. Und auch die Ghostwriter der Plakate waren unschwer auszumachen: die Eltern.
Demonstrationen, eine Petition, ein gross angelegter Widerstand: die Quartierbewohnerinnen wollen mit aller Kraft verhindern, dass ein soziales Wohnprojekt, das den Geissberg verlassen muss, zu ihnen ins Hauental zieht. Sie fürchten ein Ghetto, einen Drogensumpf.
Ihnen geht es um ihr wohlbehütetes Quartier, stattdessen argumentieren sie mit dem Wohl der Randständigen: Man könne diesen den Standort Sommerwies nicht zumuten. Die Argumente der Quartierbewohner sind mitunter ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Sie monieren etwa, das Grundstück im Hauental, auf dem das neue Wohnheim gebaut werden soll, sei «in den Wintermonaten nicht besonnt».
Die real existierenden Ängste eines Quartiers werden in eine abstruse Form des Widerstands kanalisiert.
Dabei hat die Stadt alles dafür getan, den Bewohnerinnen die Ängste zu nehmen.

Wasseradern?
Nachdem der Widerstand via SP-Grossstadtrat (und Sommerwies-Bewohner) Christoph Schlatter ins Parlament getragen wurde (siehe «Ungewöhnlicher Schulterschluss» in der AZ vom 23. Januar), hat das Parlament beschlossen, eigens eine Spezialkommission einzuberufen, um die offenen Fragen in mehreren Sitzungen zu klären.
Das Resultat ist eindeutig:
Gefährliche Altlasten? Gibt es nicht. (Man hat eigens eine Mitarbeiterin des Interkantonalen Labors hinzugezogen, die den Verdacht ausgeräumt hat. Offenbar hat man sich sogar über Wasseradern unterhalten.) Gefährliche Randständige? Gibt es auch nicht. Während Jahrzehnten gab es im «Sozialen Wohnen Geissberg» keine Polizeieinsätze. Sozialreferent Simon Stocker versicherte im Parlament: «Diese Menschen sind nicht schlimmer oder weniger schlimm als Sie alle in diesem Saal.»
Das Verdikt ist sonnenklar: Man hat 16 mögliche Standorte für das Projekt geprüft, die Sommerwies ist mit Abstand der beste.
Doch damit liessen sich die Sommerwies-Bewohner nicht besänftigen.
Am Dienstagabend im Grossen Stadtrat holte Christoph Schlatter als SP-Fraktionssprecher zum grossen Rundumschlag aus. Sein Fazit: Die Vorlage ist nach wie vor schlecht. Und die Medien haben polemisch berichterstattet. Sie hätten ihre Doppelmoral gezeigt, indem sie ihn, Christoph Schlatter, der sich derart für soziale Anliegen einsetze, als Gegner der Randständigen verunglimpft hätten. Implizit drohte Schlatter, den Rechtsweg zu beschreiten, falls die Vorlage angenommen werde.
Mit seinem Votum machte er sich keine Freunde.
Der SVP-Jungspund Christian Steurer konnte den SP-Mann genüsslich massregeln: «Genau die Partei, die das S für sozial im Namen trägt, sucht verzweifelt Gründe gegen einen neuen Standort für Randständige. Wir werden in der Schlussabstimmung sehen, ob sich die SPIer für das Parteiprogramm und somit für die Vorlage entscheiden — oder umgekehrt.»
Die Rechten konnten sich als Fürsprecher der sozial Benachteiligten inszenieren, die versuchen, den herzlosen Linken etwas Verständnis beizubringen.
Doch auch von links gab es harsche und emotionale Kritik. Der SP-Mann Schlatter stigmatisiere die Randständigen, sagte etwa ein sichtlich aufgewühlter Simon Sepan von der AL. Von der SP kamen ebenfalls mehrere Voten für die Vorlage.
Schliesslich stimmte das Parlament der Vorlage mit 32 zu 3 Stimmen klar zu. Nur Christoph Schlatter, Jeanette Grüninger und Urs Tanner (alle SP) waren dagegen.

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